ARTIS MAGICA I

Die Merseburger Zaubersprüche / The Merseburg Charms

(see English version below)

Zwei Zaubersprüche, niedergeschrieben in Althochdeutsch um das 9. oder 10. Jahrhundert n. Chr., doch inhaltlich in vorchristliche Zeit zurückreichend.

Im Jahre 1841 wiederentdeckt von Georg Waitz, seines Zeichens Historiker, in der Dombibliothek zu Merseburg (daher der moderne Name), wurde ihre erste Ausgabe von niemand geringerem veröffentlicht und kommentiert, als Jacob Grimm.

Bis heute stellen die Zaubersprüche das einzig bekannte Relikt vorchristlich heidnischer Dichtung in der althochdeutschen Literatur dar.

Heilslieder, welche höhere Mächte beschwören sollen, um in Notlagen zu helfen, sind seit frühester Zeit Teil der menschlichen Kulturgeschichte.

In den vorliegenden sollen zum einen wohlgesonnene Geister dem Anrufenden helfen, aus Gefangenschaft zu fliehen, zum anderen wird die Heilung verrenkter Knochen von den Göttern selbst erbeten.

Idisen werden besungen. Die Namen Wodan, Frija und Balder verweisen auf die germanische Überlieferungen, welche sich zu dieser Zeit bereits mit der christlichen Heiligenverehrung vermischte.

Heutzutage sind diese Fragmente nicht mehr nur von akademischem Interesse, sondern finden sich auch im Ritual moderner Heiden wieder und inspirieren das Repertoire ungezählter Musiker und Barden.

Ob nun zur Unterhaltung vorgetragen, als meditatives Mantra geraunt oder als Stoßgebet in Notlagen gesungen, die Sehnsucht der Menschen nach Magie und Wunder bleibt ungebrochen.

Und bei aller Liebe zum Geist der Aufklärung: Manchmal weiß das schummrige Flackern einer uralten Laterne mehr Trost zu spenden, als das sachliche Licht eines modernen Scheinwerfers.

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Two charms in Old High German, written down in the 9th or 10th century a.D. but contentwise rooted in pre-Christian times.

Rediscovered in 1841 by historian Georg Waitz in the library of the cathedral chapter of Merseburg (hence the name), their first publication was edited and commented on by no-one less than Jacob Grimm.

To this day these charms are the only known surviving relics of pre-Christian, pagan poetry in Old High German literature.

Blessings to evoke higher powers as aide in times of distress are part of human culture throughout history.

In these specific ones beneficial spirits are called upon to free the praying one from imprisonment firstly and secondly the gods themselves are plead to heal a sprained bone.

Idisen are extolled. The names of Wodan, Frija and Balder point to Germanic tradition which by this era already mingled with Christian veneration.

Nowadays those fragments are not only of scholarly interest but found their way into the rites of modern pagans as well as into the repertoire of uncounted bands and bards.

No matter if performed for entertainment, murmured as a mantra during meditation or sung as a quick prayer in plight; mankind’s yearning for magic and wonder remains unbroken.

And by all love for the spirit of enlightenment: sometimes the dim glint of an ancient lantern is far more consoling than the sober light of a modern spotlight.

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Erster Zauberspruch / First Charm

Eiris sâzun idisi,   sâzun hêra duoder
suma haft heftidun,   suma heri lêzidun,
suma clûbodun   umbi cuniowidi
insprinc haftbandun,   infar wîgandun

Übersetzung:
Einstmals setzten sich Idisen, setzten sich hierhin und dorthin
Einige hefteten⁠ Hafte, andere hemmten das Heer
andere nestelten⁠ an festen Fesseln
Entspring‘ den Banden, entweich‘ den Feinden

Translation:
Once sat women
They sat here, then there
Some fastened bonds
Some impeded an army
Some unraveled fetters
Escape the bonds
flee the enemy

Zweiter Zauberspruch / Second Charm

Phôl ende Wuodan fuorun zi holza
dû wart demo balderes folon sîn fuoz birenkit
thû biguol en Sinthgunt, Sunna era swister
thû biguol en Frîja, Folla era swister
thû biguol en Wuodan, sô hê wola conda
sôse bênrenki, sôse bluotrenki
sôse lidirenki
bên zi bêna, bluot zi bluoda
lid zi geliden, sôse gelîmida sîn

Übersetzung:
Phol und Wotan ritten in das Gehölz
Da wurde dem Balders-Fohlen sein Fuß verrenkt
Da besprach ihn Sinthgunt, die Schwester von Sunna
da besprach ihn Frija, die Schwester von Folla
da besprach ihn Wotan, der es wohl verstand
Wie Beinverrenkung, so Blutverrenkung
so Gliederverrenkung
Bein zu Bein, Blut zu Blut
Glied zu Gliedern, wie geleimt sollen sie sein

Translation:
Phol and Wodan were riding to the woods
and the foot of Balder’s foal was sprained
So Sinthgunt, Sunna’s sister, conjured it
and Frija, Volla’s sister, conjured it
and Wodan conjured it, as well he could
Like bone-sprain, so blood-sprain
so joint-sprain
Bone to bone, blood to blood
joints to joints, so may they be glued.

ad comitatum

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